Wie viel Wohnraum braucht das Land?
Von Jürg Schönherr In Allgemein, WohnungswirtschaftIn Deutschland mangelt es an bezahlbaren Wohnungen – darin ist sich das Gros der Fachleute einig. Sobald es an konkrete Zahlen geht, wird es allerdings spannend. Selbst Experten kommen in ihren Analysen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Die Prognosen für den deutschlandweiten Wohnraumbedarf im Jahr 2020 rangieren zwischen 272.000 und 400.000, die für das Jahr 2030 reichen von „unter 200.000“ bis 262.000.
Können Wohnbedarfsanalysen zuverlässig sein?
Wie kommen diese unterschiedlichen Zahlen zustande? Können sie Bauherren, Investoren und Wohnungsunternehmen dennoch eine Planungshilfe bieten?
Natürlich ist es nur bedingt sinnvoll, veraltete Prognosen in der Rückschau mit der Realität zu vergleichen. Es handelt sich eben um prognostizierte Zahlen, also um Hochrechnungen auf Basis der Vergangenheit. Wenn sich die Zukunft unerwartet anders entwickelt, kann das auch eine sorgfältig angelegte Analyse nicht berücksichtigt haben. Zudem nutzen die Prognosen verschiedene Definitionen und Modelle. Diese können schon aus rein rechnerischen Gründen zu unterschiedlichen Werten führen.
Haushaltsgröße ist wichtigste Säule der Bedarfsprognose
Jede Wohnbedarfsanalyse beginnt mit der Bevölkerungsprognose (Geburten- und Sterbeziffern) und der Wanderungsprognose (alters- und geschlechtsspezifische Fort-/Zuzugsraten). Das klingt übersichtlich. Doch der Teufel steckt im Detail: Werden bei der Einwohnerzahl nur die Menschen mit Hauptwohnsitz vor Ort berücksichtigt oder auch die mit Nebenwohnsitzen? Wie lang muss ein Betrachtungszeitraum gewählt sein, damit ein kurzfristiger Wanderungsausschlag nicht als dauerhafter Trend missverstanden wird? Und was passiert, wenn die Bevölkerungszahl insgesamt zwar stabil bleibt, sich aber die Alterskohorten verschieben?
Trotz gleicher Personenzahl macht es einen erheblichen Unterschied, ob Studierende, vierköpfige Familien oder Seniorenpaare nach Wohnungen suchen. Aussagekräftiger als die Bevölkerungsentwicklung ist daher die Haushaltsprognose, die Anzahl und Größe der nachfragenden Haushalte angibt. Die durchschnittliche Haushaltsgröße von 1,99 Personen/Haushalt hilft hier nicht weiter. Denn schon zwischen einzelnen Bundesländern gibt es spürbare Abweichungen, die auf kommunaler Ebene noch erheblich zunehmen. Stattdessen werden heute vielfach dynamische Modelle eingesetzt. Sie berücksichtigen soziodemografische Veränderungen wie zum Beispiel den längeren Verbleib junger Erwachsener bei den Eltern oder den höheren Platzbedarf von Arbeitnehmern mit Homeoffice, aber auch regionale Besonderheiten wie das Angebot an günstigen Studentenwohnungen oder an Altenheimplätzen.
Dynamische Modelle und Zusatzbedarfe komplizieren die Rechnung
Auch die aktuelle Wohnungsmarktsituation vor Ort muss in die Analyse einbezogen werden. So kann sich aus vergangenen Zeiträumen bereits ein Wohnungsmangel aufgestaut haben. Dieser Nachholbedarf muss berücksichtigt werden – aber zu welchem Anteil? Vielleicht sind frühere Wohnungssuchende inzwischen abgewandert, haben neue Nahverkehrsangebote anderer Stadtteile attraktiver gemacht und lässt die Schließung einer Schule oder eines Unternehmensstandorts Interesse an einer Gemeinde rapide sinken. Die Wirtschaftsprognosen eines Standortes fließen auf diese Weise mit all ihren Unwägbarkeiten ebenfalls in die Bedarfsanalyse ein.
Um das Bild zu vervollständigen, ermitteln die Experten außerdem den so genannten Ersatzbedarf. Dieser entsteht, wo Wohnraum abgerissen oder umgenutzt wird. Er entspricht allerdings in Volumen und Zuschnitt nicht exakt dem Bauabgang. Denn es werden heute andere Wohnungen nachgefragt als früher. Allein der Wohnflächenverbrauch pro Kopf liegt heute mit 46,7 m2 fast zwei Prozent höher als vor zehn Jahren.
Für konkrete Planung braucht es lokale Expertise
Selbst wenn die Gesamtfläche erhalten bleibt, entsteht ein anderer Angebotsmix. Denn Abriss, Umbau und Ersatzneubau sollen den Markt mit zukünftig gefragten Wohnungsgrundrissen und -größen versorgen. Welche das im Einzelnen sein müssen, kann die Wohnbedarfsprognose allein nicht beantworten. Hier braucht es neben einer guten Datenauswertung auch die Vor-Ort-Expertise der Akteure am Markt. Letzten Endes muss diese Planung auf Quartiersebene und unter Berücksichtigung der Mikrolage vollzogen werden. Bedarfsanalysen bieten Kommunen und Wohnungsunternehmen dabei eine wesentliche Hilfe.
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